Frieden oder
"Koalition der nationalen Einheit":
Die Planspiele
des Premiers
Um Arafat unter Druck zu
setzen, verhandelt Barak mit dem
rechts-nationalen Likud über eine
Regierungsbeteiligung
Von Thorsten Schmitz
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Das Blutbad der vergangenen zweieinhalb Wochen und das
Not-Gipfeltreffen in Scharm el-Scheich wären vermeidbar gewesen. Man
stelle sich vor: Israels Likud-Chef Ariel Scharon wäre an jenem 28.
September auf die Tempelberg-Esplanade spaziert und hunderte Palästinenser
hätten ihn mit einem Ständchen empfangen, ihm die Hand geschüttelt
und zum Tee-Umtrunk gebeten. Israel wäre entzückt gewesen über so
viel Friedfertigkeit und hätte leichteren Herzens den Palästinensern
die Souveränität über 860 Quadratmeter Tempelberg abgetreten. Und
Scharon? Sein Kalkül, eine zweite Intifada heraufzubeschwören und
somit den eigenen politischen Wert zu steigern, wäre nicht aufgegangen. |
Leider ist es anders gekommen, und Ariel Scharon, der in arabischen
Kreisen seit den Massakern in den palästinensischen Flüchtlingslagern
Sabra und Schatila 1982 nahe der libanesischen Hauptstadt Beirut nur
noch der Schlächter genannt wird, ist mehr denn je Strippenzieher
und politisches Schwergewicht.
Dass Israels Premierminister Ehud Barak wenige Stunden vor seinem
Abflug nach Scharm el-Scheich mit Scharon zusammengetroffen ist, um ihn
zur Regierungsbeteiligung zu überreden, ist in erster Linie ein Signal
an Palästinenserpräsident Jassir Arafat: Er solle schleunigst die
Unruhen in seinen Gebieten in den Griff bekommen ansonsten drohe ein
gemeinsames Regieren von Barak und Ariel Scharon als stellvertretendem
Premier- und Verteidigungsminister. Das wäre das Ende des friedlichen
Dialogs.
Durch das Treffen mit Scharon gibt Barak zudem Parteien wie der
linken Meretz und der ultra-orthodoxen Schas, die seine
Koalition im Juli verlassen haben, zu verstehen, sie sollten zurückkehren.
Mit ihnen könnte Barak leichter einen Endstatus finden in den
Beziehungen zu den Palästinensern als mit dem rechts-nationalen Likud.
Barak ist ein Stratege, der als Ex-Generalstabschef gelernt hat, die
Welt und ihre Probleme wie Planspiele zu begreifen und zu lösen.
Eine Koalition mit Likud und anderen Parteien würde sein politisches Überleben
sichern und Neuwahlen hinauszögern. Denn Barak ist ein Premier ohne
Mandat: er verfügt nur noch über 40 Abgeordneten-Stimmen im 120-köpfigen
Parlament. So wird er nach dem Gipfeltreffen in Scharm el-Scheich die
Verhandlungen mit den zionistischen Parteien im israelischen Parlament,
der Knesset, wieder aufnehmen, also allen außer den arabischen und den
kommunistischen.
Noch hat sich Barak nicht entschieden, ob er eine Notstandsregierung
bilden möchte oder eine Regierung der nationalen Einheit. In
einer Notstandsregierung müssten sich die beteiligten Parteien nicht
auf eine politische Plattform einigen. Einzige gemeinsame Prämisse wäre,
sich um die Wiederherstellung der Ruhe zu bemühen. Am Ende einer
einmonatigen Frist würde das weitere Vorgehen beschlossen: Verlängerung
des Provisoriums oder Neuwahlen.
Für die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit, also
einer großen Koalition, müssten sich die in Frage kommenden Parteien
auf politische und diplomatische Leitlinien einigen. Dazu würde auch
die Bestallung von Ministern gehören. Im derzeitigen Kabinett Baraks
sind neun Posten vakant und mehrere Ministerien interimistisch besetzt,
etwa das des Äußeren mit dem linken Schlomo Ben-Ami.
Scharon hat eine Beteiligung an einer Notstandsregierung abgelehnt
und favorisiert eine große Koalition. Die Teilnahme des Likud an einer
Regierung der nationalen Einheit macht er aber davon abhängig,
dass Barak von seinen in Camp David gemachten Konzessionen an die Palästinenser,
etwa in der Jerusalem-Frage, Abstand nimmt. Auch einen neuen Außenminister
würde der Likud berufen wollen.
Allerdings verfügt Scharon in der 19-köpfigen Likud-Fraktion nur über
wenig Spielraum. Zehn Abgeordnete sprachen sich für eine große
Koalition aus, neun dagegen. Diese neun sollen dem ehemaligen
Premierminister Benjamin Netanjahu nahe stehen, der für eine
einmonatige Notstandsregierung und gegen eine große Koalition ist. Denn
Netanjahu möchte bei Neuwahlen wieder ins Amt des Premiers gewählt
werden. In Umfragen liegt er bereits weit vor Barak und vor seinem
Parteigenossen Scharon.
NACHRICHTEN / Dienstag, 17. Oktober 2000
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