Dietrich Leder
Politiker reden, Schüler chatten
MEDIENKOMPETENZ
Wer muss hier eigentlich wem die
Benutzung des Computers erklären?
Wenn einem Politiker derzeit nichts mehr einfällt, fordert er, dass
mehr Computer und Internetanschlüsse in die Schulen einzögen.
Der größte Missstand im Erziehungs- und Bildungssystem scheint
in der Tatsache zu bestehen, dass die Schulen dieses Landes ihre
Schüler nicht oder zuwenig im Umgang mit dem Computer
schulten. Nun sieht es im Gerätepark der meisten Schulen
Deutschlands eher arm und karg aus. Betagte Videorecorder,
dejustierte Fernsehgeräte, vielleicht auch noch alte, im Betrieb laut
kreischende 16mm-Projektoren und - wenn es hochkommt - etwas
altertümliche Rechner, an denen der Informatikunterricht für die
Oberstufe abgehalten wird. Mehr nicht. Gewiss, jede Investition ist
hier willkommen und schafft Abhilfe. Aber warum wird so massiv die
Forderung laut, jeder Schüler solle ein eigenes notebook in den
Tornister bekommen oder jede Schule müsse umsonst und auf
Dauer ans Netz?
Ich fürchte, dass diejenigen, die mit solchen Forderungen ein
behauptetes Problem lösen wollen, selbst das Problem darstellen.
Es sind nämlich die Politiker, die nicht mit dem Computer umgehen
können, weshalb sie sich gleich für die Tagespresse und die
Ewigkeit ablichten lassen, wenn sie mal chatten oder eigenhändig
eine e-mail verfassen. So oft geschieht das halt nicht. Indem sie
fordern, die Jugend solle besser am Computer geschult werden,
meinen sie im Grunde sich selbst. Sie wären gerne so kompetent,
wie sie sich selbst nach außen geben. Um ihre Unsicherheit - und
vielleicht die Angst, durch eine dumme Frage eines Kindes auf dem
falschen Fuß der Unwissenheit erwischt zu werden - zu kaschieren,
fordern sie die große Bildungsoffensive.
Wer aber bitte soll die Kinder und Jugendlichen in diesen Dingen
unterrichten? Den meisten Lehrern geht es doch ebenso wie den
Politikern. Sie weichen jedem Gespräch über den Computer und
seine Nutzung aus, weil sie befürchten, dass ihre Educanden ihnen
haushoch überlegen sind. Ehe sie selbst das Wort "world wide web"
ausgesprochen haben, sind die Gören schon längst drin. Ehe sie
den Begriff "Avatar" im Lexikon nachgeschlagen haben, ist ein
solcher schon längst von einem Pennäler entwickelt worden. Und
noch ehe sie über den "Quellcode" nachgedacht haben, tauscht
sich die halbe Klasse über die Möglichkeit aus, ihn zu knacken.
Selbstverständlich gibt es unter den Schülern große
Wissensunterschiede, die durch Klassen-, Geschlechts- und
Einkommenszugehörigkeit bestimmt sind. Und selbstverständlich
gilt es, diese tendenziell im gesellschaftlichen Erziehungsprozess
aufzuheben. Aber in der Regel ist die kollektive Kompetenz einer
zehnten oder elften Schulklasse der ihrer Lehrer überlegen.
Deshalb wäre es sinnvoll (und an einigen Schulen geschieht das ja
bereits auf beispielhafte Weise), dass diese kollektive Kompetenz
der Schüler zum Selbstunterrichten etwa in Arbeitsgemeinschaften
genutzt wird. Solche Arbeitsgemeinschaften benötigen nicht
unbedingt Rechner der Schule, sondern können die privat
vorhandenen und durchschnittlich nur wenige Stunden am Tag
genutzten Computer zuhause verwenden. Der Unterricht in der
Schule müsste hierzu das analytische Vermögen als Basis- und
Reflexionswissen stärken. So wie eine allgemeine
Medienkompetenz, nach der ebenso oft gerufen wird wie nach den
Computern, weniger der Abwehr jeweils aktueller Trends (Big
Brother, Horrorvideos etc.pp.) dienen kann als vielmehr die
Grundlagen schaffen muss, mit denen die Schüler die Ökonomie,
die Technik, die Struktur und die Wirkung von Massenmedien
analytisch aufzuschließen vermögen.
Statt also Computer in die Schulen zu verfrachten, wo sie
vermutlich erst dann ankommen, wenn ihre Prozessoren endgültig
für jede Netzanwendung zu langsam geworden sind, wäre es
sinnvoll, man schaffte für das Lehrerzimmer eine
industrie-unabhängige Zeitschrift wie "c´t" an, um die Erzieher für
das Thema erst einmal zu sensibilisieren. Und die Politiker? Ach,
sie werden sich bald ein neues Steckenpferd suchen, mit denen sie
durch die Gazetten reiten wollen. Bis dahin haben sie es ja vielleicht
gelernt, mit dem Computer umzugehen. Lernen
mit dem HyperText
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