Israel, die Araber und die "eiserne Mauer"
DIE REVISION DER GESCHICHTE GEHT WEITER
DIE "jüngere Generation" israelischer
Historiker, die nach der Öffnung der israelischen und britischen
Archive 1978 den Konflikt von 1948 einer Neubewertung unterzogen hatte,
setzt nunmehr die Revision der Gründungsmythen des Staates Israel mit
der Veröffentlichung zweier Standardwerke fort: "Righteous Victims.
A History of the Zionist-Arab Conflict 1881 - 1999"(1)
von Benny Morris und "The Iron Wall. Israel and the Arab
World"(2) von Avi Shlaïm; in Frankreich kommt noch die soeben
erschienene Übersetzung von Ilan Pappés "The Making of the
Arab-Israeli Conflict, 1947 - 1951"(3 ) hinzu.
Benny Morris hat eine monumentale Geschichte des
zionistisch-arabischen Konflikts von 1881 bis in unsere Tage
geschrieben. Das Buch schildert minutiös die hundertjährige
Konfrontation, führt seine Leser durch ein Labyrinth von Ereignissen, läuft
dabei aber Gefahr, die übergeordneten Perspektiven aus den Augen zu
verlieren. Die Auslegung der Fakten bleibt leider hinter ihrer
Darstellung etwas zurück, als würde der Autor zögern, die letzten
Schlussfolgerungen aus seinen eigenen Analysen zu ziehen.
Ilan Pappé dagegen sieht die Aufgabe des Historikers
nicht so sehr in der Auflistung der Fakten; vielmehr hat er sie mit
Blick auf die Fragen der Gegenwart zu bewerten. Seiner Überzeugung nach
muss mit den Palästinensern "ein Konsens über die Vergangenheit
[erzielt werden], der die Weichen für eine zukünftige Koexistenz
stellt". Er betont darum die Notwendigkeit einer erneuten Beschäftigung
mit dem Krieg von 1948 - und nicht allein mit der Besetzung von
Westjordanland und Gazastreifen im Jahre 1967. Er schlägt vor, von zwei
Grundüberlegungen auszugehen: Wie die zukünftige Entwicklung verlaufen
wird, sei nicht militärisch, sondern politisch entschieden worden, und
zwar im Umfeld der Auseinandersetzung, die beide Seiten schon vor
Ausbruch des Konflikts ausgetragen haben. Der Kern des gegenwärtigen
Konflikts liege zweitens darin, dass in den Jahren danach kein
umfassender Friede geschlossen werden konnte.
Avi Shlaïm gibt in seinem Buch eine ebenso neue wie
überzeugende Interpretation von fünfzig Jahren israelischer Politik
gegenüber der arabischen Welt, einer Politik, die sich auf die von Zeev
Jabotinski seit 1923 propagierte Strategie der "eisernen
Mauer" gründet. Nach Auffassung des Vaters der israelischen
Rechten bestand nicht die geringste Chance, die Zustimmung der Araber
und Palästinenser zum zionistischen Projekt zu erhalten. Die Besiedlung
musste demnach im Schutz einer "eisernen Mauer" erfolgen. Erst
nachdem der arabische Widerstand gebrochen wäre, könnte eine palästinensische
Autonomie innerhalb des jüdischen Staates in Betracht gezogen werden.
Avi Shlaïm macht deutlich, wie die Arbeiterpartei diese Strategie
stillschweigend übernommen hat.
Alle drei Bücher hinterfragen also im Lichte bislang
unveröffentlichter Dokumente zwei zentrale Mythen der israelischen
Geschichtsschreibung: Das "Wunder" der Geburt des jüdischen
Staates im Jahre 1948 und das tragische Los einer kleinen,
friedliebenden Nation, die einer bewusst feindlichen arabischen Welt die
Hand reicht. Dass der unerwartete Sieg im Unabhängigkeitskrieg die
Geburtsstunde des jungen Staates gewesen sei - dieser Vorstellung hält
Ilan Pappé die entscheidende Rolle der internationalen Diplomatie bei
der Gründung Israels entgegen, so etwa den plötzlichen Umschwung der
russischen Politik zugunsten der Teilungsidee im Mai 1947 oder die von
der Sonderkommission der Vereinten Nationen (Unscom) hergestellte
Verbindung zwischen dem Schicksal der Holocaust-Überlebenden und der
Zukunft Palästinas.
Avi Shlaïm wiederum greift eine These auf, die er in
einem seiner früheren Bücher, "Collusion across the Jordan: King
Abdullah, the Zionist Movement and the Partition of Palestine"(4),
brillant entwickelt hatte: Israels Sieg von 1948 wäre nicht so
entscheidend ausgefallen, hätten nicht die Jewish Agency und König
Abdallah seit dem 17. November 1947 insgeheim eine Teilung Palästinas
in die Wege geleitet und hätte sich nicht die transjordanische Legion -
die einzige arabische Armee, die imstande war, den israelischen Truppen
wirksam entgegenzutreten - auf das im Teilungsplan der UNO dem
arabischen Staat eingeräumte Gebiet zurückgezogen.
Einer der zentralen Punkte in der historischen Debatte
über den Konflikt von 1948 bleibt jedoch die Frage nach der
Verantwortung für den massiven Exodus der Palästinenser. Wie hat man
sich den Zusammenbruch einer ganzen Gesellschaft zu erklären? Soll man
sich der offiziellen Version Israels anschließen, die von einer Flucht
von Teilen der Bevölkerung spricht, insbesondere von einem
"Dominoeffekt", ausgelöst durch die Abwanderung der Eliten
nach dem Herbst 1947? Oder muss man von planmäßiger Vertreibung
ausgehen, wie dies einige palästinensische Historiker tun? Oder von
einem komplexen Bündel von Gründen, wie es Benny Morris vorschlägt,
von der strukturellen Schwäche der palästinensischen Gesellschaft,
aber auch von einer unbestreitbaren Verantwortung Israels?
Seit langem konzentriert sich die Debatte auf den
Dalet-Plan, der im Frühjahr 1948 von der Haganah erarbeitet wurde. Während
Benny Morris in ihm weiterhin einen militärischen Plan zur Landnahme
sieht, begreift Ilan Pappé ihn als wesentliches Element einer auf die
Vernichtung des Gegners zielenden Strategie. Mit dem neuen Buch von Avi
Shlaïm wird die Bewertung der israelischen Geschichte auf die
entscheidenden Jahre nach dem Konflikt von 1948 ausgedehnt, auf die Zeit
des verfehlten Friedensschlusses mit der arabischen Welt. Der Autor
macht dafür unmissverständlich die Unnachgiebigkeit eines jüdischen
Staates verantwortlich, der sehr schnell zum "Land des Status
quo" wird und nicht bereit ist, den Preis für den Frieden zu
zahlen. Dies belegt die 1949 unter der Ägide der Vermittlungskommission
der Vereinten Nationen initiierte Lausanner Konferenz, bei der Israel
jegliches Zugeständnis in der Grenz- und in der Flüchtlingsfrage
verweigert und einen umfassenden Friedensschluss zur Vorbedingung macht.
Aus der Überzeugung heraus, dass die Zeit für Israel
arbeite und die Welt das Flüchtlingsdrama über kurz oder lang
vergessen werde, widmete sich Ben Gurion innenpolitischen Problemen und
betrachtet die Waffenstillstandslinien als internationale Grenzen, die
Waffenstillstandsvereinbarungen als rechtmäßige Anerkennung Israels.
Der Autor verdeutlicht, wie im Laufe der fünfziger Jahre die militärische
Stärke zum wichtigsten Instrument der israelischen Politik wurde. In
dieser revidierten Darstellung der israelischen Außenpolitk ist Suez
nicht mehr der gerechte Krieg, auch kein strahlender militärischer
Sieg, der dem Land elf Jahre Frieden geschenkt hat, sondern eine
politische Niederlage, die die israelisch-arabischen Beziehungen endgültig
vergiftet und die Einmischung der Sowjetunion im Nahen Osten
beschleunigt hat.
Die mit der jüngeren Geschichte befassten Kapitel,
vom Sechstagekrieg im Juni 1967 bis zu den Oslo-Verträge, sind weniger
originell, doch fügt sich ihre Interpretation in die Logik der
"eisernen Mauer". Zwar war der Sechstagekrieg nicht von
israelischen Expansionsbestrebungen getragen, gleichwohl führte er zu
einer neuen Debatte über die territorialen Ziele des Zionismus und war
der Beginn einer "Zermürbungsdiplomatie", die den Arabern nur
die Wahl ließ zwischen der Beibehaltung des Status quo und einem
umfassenden Frieden, jedoch ohne vollständigen Rückzug aus den
besetzten Gebieten.
Während der 1979 erfolgte Separatfrieden mit Ägypten
zu israelischen Bedingungen geschlossen wurde, konnte mit dem
libanesischen Abenteuer von 1982 keines der angestrebten Ziele erreicht
werden, weder die Zerschlagung der PLO noch die Schaffung eines
christlichen, mit Israel verbündeten Libanon. Es gefährdete vielmehr
den innenpolitschen Konsens in der Frage der nationalen Sicherheit, der
durch die Intifada endgültig ins Wanken geriet. Für die Führer des
Likud scheint der Krieg mit den Arabern nachgerade zu einer
Lebenshaltung geworden zu sein. Für die Arbeitspartei hat die
"eiserne Mauer" ihren Zweck erfüllt. Sie sieht die Zeit für
Verhandlungen gekommen, ohne dass man jedoch notwendigerweise bereit wäre,
den Preis für den Frieden mit Syrien und mit den Palästinensern zu
zahlen.
Nadine Picaudou
dt. Christian Hansen
Fußnoten:
(1) New York (Norton & Company) 1999
(2) New York (Knopf) 1999
(3) London/New York (I.B. Tauris) 1992; frz: "La guerre de 1948 en
Palestine. Aux origines du conflit israélo-arabe", Paris (La
Fabrique) 2000
(4) Oxford (Clarendon Press) 1988
Le Monde diplomatique Nr. 6293 vom
10.11.2000, Seite 23, 215 Zeilen, Dokumentation Nadine Picaudou |