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Ein palästinensisches Mädchen
und ein getöteter Jude:
"Uns war egal, wer Jonathans Organe erhält"
Jasmin darf
zweimal leben
Er war
erst 19 Jahre alt, als er in Tel Aviv einem Selbstmordattentäter zum
Opfer fielseine Niere gab einem kleinen Mädchen die Zukunft zurück
Von Thorsten Schmitz
Jerusalem/London, im
DezemberEs ist früh um halb sechs, der Himmel überm Westjordanland
schimmerttürkis, und Dina Abu Ramila schleicht auf Zehenspitzen ins
Kinderzimmer ihrer Tochter. Die zwei Söhne Fuad, 5, und Fadi, 3, sollen
nicht wach werden. Draußen regnet es zum ersten Mal seit sieben Monaten,
drinnen streicht die Mutter ihrer Tochter das schulterlange braune Haar
aus dem Gesicht und flüstert deren Namen. Jasmin, Jasmin, wach auf,
wasch dir das Gesicht. Jasmin erlöst die Barbiepuppe in ihrem Arm aus
der Umklammerung, schält sich aus dem Bett und tappt barfuß auf dem
kalten Marmorboden ins Badezimmer. Leise hantiert die 27-jährige Mutter
in der Küche und kocht Kakao, Ehemann Fuad liegt noch unter Daunen. Um
sechs Uhr lassen Mutter und Tochter die Tür ins Schloss fallen, die
Fassade ihres Hauses ist mit einem Bild der Al-Aksa-Moschee verziert.
Die beiden Palästinenserinnen machen sich von ihrem Dorf Akab am
Stadtrand von Ramallah auf den Weg in eine andere Welt, die vier
Kilometer Luftlinie vom Kinderzimmer Jasmins entfernt beginnt. Weil
Israel vor Palästinensern Angst hat, müssen Dina Abu Ramila und Jasmin
Sperren und Checkpoints passieren. Sie müssen sich ausweisen und
ausharren, bis ihnen israelische Soldaten Unbedenklichkeitssignale
erteilen, eine Handbewegung, ein Kopfnickenoder aber sie sagen Nein.
Jasmin und ihre Mutter dürfen an diesem Morgen durch, wie an all den
anderen in den letzten drei Monaten auch. Ein junger Soldat durchsucht
die Plastiktüte und findet Kekse, Jasmins Barbiepuppe und eine Flasche
stilles Mineralwasser. Die israelischen Ausweispapiere der Mutter sind
Ordnung, Akab gehört noch zur Stadtverwaltung von Jerusalem. Außerdem
besitzt Dina Abu Ramila ein Schreiben des Krankenhauses Schaar Zedek,
das im Westen Jerusalems liegt, ganz nahe dem Herzl-Friedhof, wo Itzchak
Rabin begraben liegt.
Wie vor Kälte erstarrt
Jasmin und ihre Mutter sind willkommen, weil Israel Jasmin ein zweites
Leben geschenkt hat. Dass dieses nicht erlischt, dafür sorgen die
Krankenschwestern und Ärzte in Schaar Zedek. Zweimal in der Woche, immer
donnerstags und sonntags, begeben sich Jasmin und ihre Mutter auf die
zeitraubende Reise in das jüdische Israel. Fast 2500 Palästinenser und
Israelis sind in den zweieinhalb Jahren der Intifada getötet worden,
manchmal aber schenken sich die verfeindeten Nachbarn auch Leben.
Jasmin hat eines bekommen. In ihr reinigt die 150 Gramm schwere Niere
eines 19-jährigen Juden nun das Blut und sondert Giftstoffe aus. Die
Palästinenserin Jasmin lebt, weil ein Jude aus Schottland getötet wurde.
Von einem Palästinenser.
Vielleicht ist ein Kugelschreiber im Wert von nicht mehr als einem Euro
daran schuld, dass Jasmin nicht mehr am Dialysegerät hängt und Jonathan
Jesner für seine Ehrlichkeit mit dem Leben bezahlen musste.
Vielleicht, sagt Gideon Black, ein Cousin von Jonathan. Der 19 Jahre
alte Gideon hat Jonathan sterben sehen. Er sagt: Ich bin noch immer wie
vor Kälte erstarrt.
Der letzte Tag im Leben von Jonathan Jesner ist ein Donnerstag, der 19.
September. Joni, wie sie ihn nennen, kommt aus Glasgow und lebt seit
einem Jahr als Schüler einer jüdischen Religionsschule im Siedlungsblock
Gusch Etzion südlich von Jerusalem. Es ist Sukkot, Laubhüttenfest, und
die Schüler haben eine Woche frei. Gideon und Jonathan wollen die Ferien
in Tel Aviv verbringen, am Meer, zusammen mit den Eltern von Gideon, die
im Hilton-Hotel abgestiegen sind. Jonathan packt eine Reisetasche mit
Büchern, Hosen und T-Shirts und entdeckt dabei den Kugelschreiber, den
er seit drei Wochen mit sich herumträgt. Der Besitzer eines
Antiquariates hatte ihm den Stift geliehen, als Joni mit einem Scheck
bezahlen wollte. Aus Versehen nur hatte er ihn eingesteckt. Gideon
drängt Jonathan zur Eile an diesem Donnerstagmorgen, damit sie den
11-Uhr-Bus nach Tel Aviv noch erwischen. Jonathan aber will unbedingt
erst ins Antiquariat. Der Besitzer zeigt sich überrascht: Das war doch
nicht nötig, sagt er. Doch Jonathan fühlt sich jetzt gut, er ist sein
schlechtes Gewissen los.
Am Busbahnhof in Jerusalem erwägen die zwei, ein Sammeltaxi zu nehmen.
Sie handeln mit dem Fahrer einen Preis für Tel Aviv aus und steigen ein.
Als dieser jedoch das Ziel Hilton-Hotel erfährt und umgehend den Preis
erhöht, nehmen sie doch den Bus.
In Tel Aviv steigen die beiden Cousins in den Linienbus Nummer 4. Weil
ihre Taschen sperrig sind, stellen sie sich in die Mitte. Auf der
hektischen Allenby-Straße hält der Bus und öffnet seine Türen. Beim
Fahrer steigt ein Palästinenser ein, der trotz der sengenden Hitze eine
Winterjacke trägt. Der Passagier fällt niemandem auf. Es ist kurz vor
ein Uhr, Jasmin ist in Jerusalem an ein Dialysegerät angeschlossen, als
der Palästinenser die unter seiner Winterjacke festgezurrte Bombe
aktiviert. Er sprengt sich in Stücke. Gideon, der vor neun Monaten nur
knapp einem Selbstmordanschlag in Jerusalem entgangen war, denkt: Nicht
schon wieder! Ihn überkommt Angst, fürchterliche Angst. Die Stille war
unheimlich. Alle Fenster waren zerborsten. Diese plötzliche Unordnung.
Dann fingen die Menschen im Bus zu schreien an, manchen hingen
Hautfetzen vom Leib, einem fehlte ein Arm. Ich sah Joni am Boden
liegen. Nägel und Schrauben waren in Jonis Kopf gedrungen, seine Augen
unnatürlich verdreht. Sanitäter kamen und transportierten ihn ab. Am
Straßenrand drückten Sanitäter Jonathan eine Beatmungsmaske aufs Gesicht
und hoben ihn in einen Krankenwagen.
Auf dem Weg ins nahe gelegene Ichilov-Krankenhaus betet Gideon um das
Leben seines Cousins. Er selbst ist nur leicht verletzt, ein
Metallsplitter ist in seinem Hals hängen geblieben. Beim Gespräch in der
Talmudschule in Gusch Etzion zeigt Gideon die Narbe am Hals. Sie fällt
kaum noch auf.
Noch heute ist ihm unbegreiflich, dass ich heil geblieben bin, obwohl
er doch näher an dem Selbstmordattentäter stand. In der Schule haben sie
eine Erinnerungsecke mit Fotos und Kerzen eingerichtet. Gideon zündet
die Kerze für Jonathan jedesmal wieder an, wenn der Wind sie ausgeblasen
hat. Manchmal denke ich, Joni ist einfach nur seine Mutter und seinen
Bruder in England besuchen gefahren und kommt gleich wieder.
Genauso fühlt Ari, Jonathans 26 Jahre alter Bruder, der in London lebt
und in einer Anwaltskanzlei arbeitet. Ari spricht in einer Mittagspause
mitten im Londoner Vorweihnachtsrummel von seinem Bruder ruhig und warm,
dass man das Gefühl bekommt, dieser biege gleich um die Ecke und werde
sich auch ein Sandwich bestellen. Ich kann mich nicht daran gewöhnen,
dass Jonathan tot ist. Was uns sehr geholfen hat, sind die
Organtransplantationen. So haben wir das Gefühl, er lebt noch weiter.
Ari sagt, er habe zwar gewusst, dass Jonathan in Israel ständig
gefährdet sei. Das Leben dort ist wie eine Lotterie. Aber ich hätte
nicht gedacht, dass ihm etwas in Tel Aviv passieren würde.
Die britische Botschaft arrangiert Plätze für die Familie in einer
ausgebuchten British Airways Maschine. Am Flughafen in Heathrow treffen
sich Ari, seine geschiedene Mutter, ein Bruder und zwei Schwestern. Der
Vater lebt in Jerusalem. Weit nach Mitternacht landen die Jesners in Tel
Aviv und werden direkt an Jonathans Bett gebracht. Ich hatte große
Angst vor dem Anblick, aber wie er so dalag, mein Bruder, nur mit einem
Verband um den Kopf, die Augen geschlossen, sah es aus, als schliefe er
nur.
Die Ärzte geben ihm jedoch keine Chance. Er ist hirntot. Am
Freitagmorgen wird Jonathan, der ab Herbst in London Medizin studieren
und Kinderarzt werden wollte, für tot erklärt. Der Arzt bittet die
Jesners zu überlegen, ob sie einer Organentnahme zustimmen könnten. Es
war schwer für uns, denn Jonathans Körper war vollständig erhalten
geblieben, und nach jüdischem Glauben soll der ganze Körper beerdigt
werden. Dann einigten wir uns jedoch darauf zuzustimmen, da Jonathan
Arzt werden wollte und immer davon gesprochen hatte, wie wichtig
Organentnahmen sind, sagt Ari. Der Familie ist bewusst, dass sie mit
ihrem Einverständnis aber keinen Einfluss darauf hat, wer die Organe
empfangen wird. Erst Tage später erfahren die Jesners durch einen
israelischen Reporter, dass Jonathans Niere in Jasmin weiterlebt. Uns
war egal, wer Jonathans Organe erhält, sagt Ari Jesner, Hauptsache es
hilft, Leben zu retten. Im Nahen Osten liegen Leben und Tod so nah
beieinander. Dass eine Palästinenserin nun die Niere meines Bruders
trägt, zeigt doch nur, wie sinnlos die Intifada ist. Irgendwann wolle
die Familie Jasmin einmal treffen, aber jetzt ist es noch zu früh.
Die Sache mit dem Handy
Es muss jetzt alles sehr schnell gehen, denn in wenigen Stunden beginnt
der Schabbat, und vorher muss Jonathan begraben werden. Während ihm
Nieren, Leber und Bauchspeicheldrüse entnommen und kühl gehalten werden,
sucht die Organspende-Zentrale in Israel nach geeigneten Empfängern. 700
Menschen warten derzeit auf eine Spenderniere, Jasmin Abu Ramila steht
an erster Stelle. Sie hat dieselbe Blutgruppe wie Jonathan, B, und
wartet bereits seit zwei Jahren auf ein Transplantat.
Doch unter der Handy-Nummer, die ihr Vater hinterlassen hat, ist niemand
zu erreichen, und einen Anschluss gibt es im Haus in Akab nicht. Wenn
der potenzielle Empfänger jedoch binnen einer Stunde nicht
benachrichtigt werden kann, nimmt man Nummer Zwei auf der Liste. Weil
Jasmins Blutwerte aber ideal zu Jonathans Niere passen, geben sie die
Suche nicht auf. Ein Taxi wird nach Akab geschickt. Der Fahrer fragt
sich Haus für Haus zu Familie Abu Ramila durch. Vater Fuad ruht sich im
Wohnzimmer auf dem Sofa aus, als es an der Tür klopft. Die Familie ist
in heller Aufregung. Am kommenden Morgen sollen sie sich im
Schneider-Krankenhaus in Petach Tikva nahe Tel Aviv einfinden, Punkt
acht Uhr. Jasmin leidet zwar seit zwei Jahren unter der stundenlangen
Nierenwäsche. Sie weiß, dass nur eine neue Niere sie von dieser Qual
erlösen kann. Aber sie weinte, dass wir sie kaum beruhigen konnten,
sagt der Vater.
Fuad Abu Ramila brät in Ost-Jerusalem auf der Straße Falafelbällchen und
arbeitet als Küchenhilfe in einem Café. Während er den Erbsenbrei zu
Kugeln formt und diese in heißes Öl wirft, dankt er immer wieder Gott, Inschallah!,
dass seine Tochter nun eine funktionierende Niere hat. Er sagt, er
verabscheue Menschen, die sich in die Luft sprengten. Mit dem Islam habe
dies nichts zu tun. Und Arafat habe sein Volk betrogen. Wir sind
Brüder, sagt Fuad Abu Ramila, der seine Stimme senkt, wenn er gegen
Arafat spricht, wir haben denselben Stammvater Abraham, wir sollten in
Frieden zusammen leben.
In der Nachbarschaft hatte sich schnell herumgesprochen, dass Jasmin nun
mit einer jüdischen Niere lebt. Manche mögen das nicht hören,
berichtet der 31-jährige Fuad Abu Ramila. Einmal sei Jasmin sogar auf
der Straße gehänselt worden, ein anderes Mal habe man die Mutter
gefragt, warum Jasmin keine palästinensische Niere bekommen habe. Der
Vater hat Jasmin, der Mutter und den zwei Söhnen eine neue
Sprachregelung eingebläut: Sie sollen sagen, dass die Niere nicht von
einem Israeli kommt, sondern von einem Juden aus Schottland.
Gerettet nach drei
Stunden
24 Stunden nach Jonathans Tod fahren die Eltern mit Jasmin an diesem 21.
September nach Tel Aviv. Alle drei haben sie in der Nacht kein Auge
zugetan. Den Weg kennen sie, aber in Petach Tikva verfahren sie sich
doch. Ein israelischer Taxifahrer lotst sie zum Krankenhaus. Drei
Stunden dauert die Operation, Mutter Dina weicht nicht von ihrer
Tochter, der Vater kommt jeden Abend und liest Jasmin Geschichten vor.
Es ist das erste Mal, dass Jasmin in Israel ist. Außer dem Osten
Jerusalems hat sie noch nie etwas gesehen von dem Land, das ihr eine
neue Niere schenkt.
Die Ärzte sind zuversichtlich bis heute, dass die Niere von Jasmins
Körper akzeptiert wird. Jasmin weiß, dass sie von einem Juden stammt.
Man hat ihr aber nicht gesagt, dass dieser durch einen Palästinenser
getötet wurde. Das wäre zu viel für sie, sagt die Mutter .
Jasmin kennt wegen der vielen Nachuntersuchungen hier im Jerusalemer
Schaar Zedek-Krankenhaus inzwischen jede Krankenschwester, jeden
Pfleger, jeden Arzt. Sie alle spielen mit ihr, lächeln sie an und
passen auf sie auf. Als eine Frau mit einem mobilen Süßigkeitenladen
vorbeifährt, bestürmt Jasmin die Mutter, verlangt Geld und kauft sich
Bamba, die Lieblingsspeise israelischer Kinder, Erdnussflips. Sie
trinkt viel, denn ihr Urin soll getestet werden, und zwischen den
Untersuchungen tobt sie in der Spielecke mit einem jüdischen Jungen
ihres Alters. Er trägt eine Kippa und spricht kein Wort Arabisch, Jasmin
versteht kein Hebräisch. Sie will einmal Mathematiklehrerin werden und
die Welt bereisen, sagt sie. Der Vater hat ihr eine Reise nach Antalya
versprochen, wenn die Untersuchungen seltener werden. Jasmin spricht
davon, als würde sie schon morgen fliegen. Sie sitzt neben ihrer Mutter,
erschöpft vom Toben, und stopft Bambas in sich hinein.
Doch plötzlich rasen Ärzte und Pfleger die Flure entlang, der Fernseher
im Warteraum wird laut gestellt. Vor wenigen Minuten hat sich ein
Palästinenser ganz in der Nähe des Krankenhauses in einem voll besetzten
Linienbus in die Luft gesprengt, man spricht von mehr als zehn Toten,
darunter viele Kinder auf dem Weg zur Schule. Erste Bilder zeigen einen
völlig zerfetzten Bus. Die ersten Krankenwagen kommen mit Blaulicht im
Krankenhaus an. Verzweifelte Eltern rennen auf den Stationen umherauf
der Suche nach Angehörigen.
Jasmins Mutter möchte nicht, dass ihre Tochter die Bilder sieht und
wegen der Panik erschrickt. Sie überredet Jasmin, zusammen mit dem
jüdischen Jungen ein Puzzle zu spielen.
Es fordert die volle Konzentration der beiden.
sz / 27. Dezember 2002
[Buch
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hagalil.com / 29-12-02
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