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Israels Militär
regelt wieder
das Zivilleben der Palästinenser:
Operation Alltag
Israels Regierungschef Ariel Scharon bezeichnet die Wiederbesetzung
aller palästinensischer Autonomiezonen mit Ausnahme Jerichos am Toten
Meer seit Juni als temporär. Die Armee werde dort stationiert, um
Israels Sicherheit zu gewährleisten. Sie habe aber kein Interesse daran,
länger als nötig in den Palästinensergebieten zu bleiben. Dahinter
steckt die Abneigung dagegen, neben der teuren Wiederbesetzung, die
bereits den Staatshaushalt 2002 gesprengt hatte, auch die kostspielige
und personalintensive Ziviladministration zu übernehmen.
Bis zum Friedensvertrag von Oslo und der Einrichtung der
Palästinensischen Autonomiebehörde 1995 hatte Israel seit dem
Sechs-Tage-Krieg 1967 als Besatzungsmacht auch das alltägliche, zivile
Leben der Palästinenser geregelt. Zwar weist die Regierung Scharons die
Vermutung zurück, sie wolle aus der Wiederbesetzung seit Juni einen
permanenten Status machen, doch die Zeichen mehren sich, dass mit einem
Rückzug der Soldaten so bald nicht zu rechnen ist. Tatsächlich nämlich
hat die Armee in den letzten Monaten auch Aufgaben der Zivilverwaltung
übernommen. Israel regiert die Palästinenser wieder wie in den siebziger
und achtziger Jahren, unbemerkt von der Öffentlichkeit, wie die
Zeitung Haaretz kritisierte.
Die Ausgangssperren in Bethlehem etwa haben zur Festnahme von mehr als
40 mutmaßlichen Terroristen geführt, aber zu einem hohen Preis, sagt
Leutnant Mosche Madar: Zehntausende Zivilisten leiden unter der
Ausgangssperre. Madar ist einer der höchsten Funktionäre der mehrere
hundert Mann starken, im gesamten Westjordanland operierenden
Liaison-Kommandos (DCL). Während israelische Armeesoldaten
palästinensische Terroristen jagen und töten, regeln etwa 40 Männer
Madars in Bethlehem den Alltag der Palästinenser. Sie übernehmen die
Aufgaben, die laut dem Friedensvertrag von Oslo eigentlich den
Palästinensern obliegen. Da aber deren Infrastruktur fast vollständig
zerstört wurde, muss Israel nun notgedrungen erneut die zivile
Administration übernehmen. Wir müssen die Müllabfuhr organisieren,
Wasser- und Stromleitungen reparieren, die bei Einsätzen unserer
Soldaten beschädigt wurden, wir löschen Feuer, wenn es brennt, wir
stellen Reisedokumente aus, wir garantieren die Versorgung von
Krankenhäusern mit Medizin und Sauerstoff, kurz: Wir regeln den Alltag
der Palästinenser, erklärt Madar. Die Regierung Scharons wollte eine
neue Zivilverwaltung zwar unbedingt vermeiden. Andererseits könne man
nicht die palästinensische Autonomiestruktur zerstören und dann
abhauen, schrieb Haaretz dieser Tage. Zugleich stehe Israel unter
starkem internationalen Druck, die Lebensbedingungen der Palästinenser
zu verbessern.
Die Mitglieder der DCL-Kommandos sorgen etwa dafür, dass nach
Ausgangssperren die Banken benachrichtigt werden, damit diese genügend
Bargeld in ihren Tresoren lagern. Sie sorgen dafür, dass der Bäcker in
Bethlehem oder in Ramallah rechtzeitig über eine Aufhebung der
Ausgangssperre informiert wird, damit dieser seinen Kunden in den
Stunden der Bewegungsfreiheit frisches Brot anbieten kann. Wir rufen
den Bäcker an, sagt Madar, wir holen ihn ab, eskortieren ihn nach
Ost-Jerusalem, wo er Mehl kauft, und eskortieren ihn zurück in seine
Backstube.
Thorsten Schmitz / sz 27. Dezember 2002
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