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Hebräische Buchstaben im Spiel
Zeitung in einfachem Hebräisch
Jüdische Weisheit
Die Stadt, die schlecht schläft

VON THORTSEN SCHMITZ
FOTOS: ASHKAN SAHIHI
MAGAZIN DER SUEDDEUTSCHEN ZEITUNG
No. 10 / 08-03-02


ZWEI MILLIONEN JUDEN LIEBTEN IHR NEW YORK, WEIL SIE SICH SICHER FÜHLTEN. DAMIT IST ES NUN VORBEI.

Auf dem Flug von Tel Aviv nach New York sitze ich neben einem kahl geschorenen Israeli, der soeben die Armee hinter sich gelassen hat. Er heißt Jonathan, ist 22, hat tätowierte Oberarme und am Poansatz, sagt er, "flattert ein Schmetterling". In Israel lassen sich junge Menschen tätowieren als gäbe es die Geschichte nicht. Dabei leben dort mehr Tätowierte als anderswo. Auch Jonathans Großmutter trägt eine Tätowierung am linken Unterarm - aus Auschwitz. Als sie die Blüten auf seinen Armen zum ersten Mal sah, weigerte sie sich, mit ihm zu sprechen. "Ich will das nicht mehr", sagt Jonathan, "den Holocaust, den Krieg, die Religion."

Bis vor kurzem noch kontrollierte Jonathan Palästinenser, die genauso alt waren wie seine Eltern; zwei israelische Soldaten hat er sterben sehen. "Ich muss die Bilder vergessen", sagt er und versinkt in Woody Allens Im Bann des Jade-Skorpions auf dem Videoschirm vor ihm. New York ist das Wohnzimmer Israels, Jonathan will es sich dort bequem machen. "Muss es ausgerechnet New York sein?", haben ihn seine Eltern noch unter dem Eindruck des 11.September gefragt. Als Antwort machte Jonathan eine Gleichung auf: "Ob ich nun in New York von arabischen Terroristen umgebracht werde oder in Tel Aviv vor einem Club, ist doch egal."

New York ist die größte jüdische Stadt der Welt. Von den acht Millionen Einwohnern sind zwei Millionen Juden, sie prägen das gesellschaftliche und politische Leben. Zwölf Jahre nach Ed Koch hat die Stadt mit Mike Bloomberg wieder einen jüdischen Bürgermeister, Woody Allen und Bette Midler leben hier, die Schriftstellerin Susan Sontag, die Fotografin Annie Leibovitz, die Modedesignerin Donna Karan. Die New York Times wird von Juden herausgegeben, die größten Taxiunternehmen heißen Tel Aviv und Jaffa und sind jüdisch; koschere Essenslieferanten bringen freitags das Schabbat­Dinner, zum jüdischen Fest Chanukka stehen in allen Hotels und Bürolobbys siebenarmige Kerzenleuchter auf den Empfangstresen.

„ES KANN KEINE SICHERHEIT IM LEBEN GEBEN, WENN ES MÖGLICH IST, JUDEN MILLIONENFACH ZU VERGASEN.“

Wie lebendig die jüdische Gemeinde ist; zeigt unter anderem die im Februar gegründete Zeitschrift Heeb, die von zwanzigjährigen Juden herausgegeben wird. Sie ist dem "coolen Juden" gewidmet, wie der Untertitel "The New Jew Review" andeutet, Steven Spielberg und der jüdische Unternehmer Charles Bronfman unterstützten das Blatt mit insgesamt 70000 Dollar.

Die Redaktion des Hochglanzmagazins befindet sich in Brooklyns Stadtteil Williamsburg, wo orthodoxe Juden Tür an Tür mit Szenegängern und Hispanics leben. Die Art Directorin des Blattes, Nancy Schwartzman, sagt: "Es gibt keinen besseren Ort auf dieser Welt für Heeb als New York. Die Stadt sei toleranter als Jerusalem und reicher als ganz Israel.

Schwartzman hat jüngst ein Jahr in Israel gelebt und dort die "hippen" Israelis als Vorbild für das neue New Yorker Magazin entdeckt. Die erste Ausgabe berichtet über Neil Diamond, die erste jüdische Skateboardfahrerin, die Skateboarden an hohen Feiertagen wie Jom Kippur "okay" findet, und über Afrolook-Frisuren von New Yorker Juden. Bei der Eröffnungsparty in der "Essex Lounge" in Manhattan tanzten jüdische Go-go-Boys und verteilten das Premierenheft — es ist den Opfern des 11.September gewidmet.

Im Wartezimmer von Ina Anisfeld wird man mit Talibankämpfern und einem Meeresrauschen allein gelassen. Die Wellen kommen aus einem Kassettenrecorder, der sich auch auf Gebirgsbachgeplätscher und Vogelgezwitscher einstellen lässt. Bin Laden und seine vermummten Helfer prangen auf den Titeln von Newsweek und Time, andere Zeitschriften gibt es nicht. Als ich die Assistentin frage, ob ich mir den Gebirgsbach anhören darf, schürzt sie ihre Lippen zu einem "No". Seit drei Jahren rauscht das Meer im Wartezimmer von Frau Anisfeld nun schon, im 27. Stockwerk eines Bürogebäudes in Midtown Manhattan. Und die Patienten von Frau Anisfeld, sagt ihre Assistentin, schätzten es nicht, wenn Dinge sich änderten.

Ina Anisfeld ist Psychologin und verfügt über einen großen jüdischen Kundenstamm. Sie sitzt in einem Ohrensessel zwischen zwei Fenstern. Durch das eine sieht man das Empire State Building und die Flugzeuge, die wieder darüber hinwegfliegen. Durch das andere Fenster hat man einen Blick auf die Südspitze von Manhattan. Kurz nach dem 11.September hat Ina Anisfeld überlegt, ob sie ihren Sessel in eine andere Ecke stellen solle. Aber der Blick, haben ihr Patienten gesagt, sei schon die halbe Therapie.

Viele ihrer Patienten leiden noch immer an posttraumatischem Stress, schlafen schlecht, kauen Fingernägel, bekommen Schweißausbrüche, haben Angst vor arabischen Taxifahrern und manchmal davor, dass sie als Juden für den Angriff verantwortlich gemacht werden könnten. Ein junger Israeli, der die Erinnerung an seine Zeit in der Armee auslöschen möchte, hat seit dem 11.September wieder Albträume, fühlt sich von Terroristen verfolgt. Ein anderer spielt mit dem Gedanken, nach Israel auszuwandern: Dort würde er sich sicherer fühlen. Ältere Patienten hätten gepackte Koffer im Flur stehen, einer von ihnen habe eine Liste mit Telefonnummern angefertigt: Bei einem neuen Angriff soll jeder, der darauf steht, schnell informiert werden. Der Ausnahmezustand ihrer Patienten sei kein Verfolgungswahn im herkömmlichen Sinne, sagt Anisfeld. Die Angriffe hätten schlicht jüdische Urängste hervorgerufen. Damit sie besser mit der Erfahrung des 11.September umgehen können, sagt sie allen Patienten denselben Satz: "Es kann keine Sicherheit im Leben geben, wenn es möglich ist, Juden millionenfach zu vergasen."

Dass bin Laden sich New York als Ziel seines Angriffs auf Amerika ausgesucht hat, hat nach Meinung von David Gelernter mit den Juden der Stadt zu tun. Gelernter ist Computerwissenschaftler in Yale und Opfer eines rechtsextremen US-Terroristen gewesen: Eine Briefbombe verletzte ihn schwer. "Bin Laden hasst die Juden", schrieb er in einem Essay im Oktober. Deshalb hätten bin Ladens Terroristen versucht, die größte jüdische Stadt der Welt "in ein Brandopfer zu verwandeln".

"WIR JUDEN WISSEN, WIE ES IST, VERFOLGT ZU WERDEN. ABER WIR HABEN NICHT DAS MONOPOL AUFS LEIDEN."

Die meisten Schriftsteller und Künstler empfinden ähnlich wie der Computerwissenschaftler. Louis Begley etwa, der Rechtsanwalt, Schriftsteller und Präsident des amerikanischen PEN-Zentrums, sagt: "Wir Juden in New York sind der große Satan für bin Laden." Der Autor Tom Segev kann gar nicht genug Parallelen beschreiben zwischen New York und Israel. Am 10.September war er aus Jerusalem kommend in New York gelandet, um "ein ruhiges" akademisches halbes Jahr zu verbringen. Einen Tag später "hatte ich Israel vor der Tür". Vor allem die Glorifizierung der Feuerwehrmänner erinnere ihn an die Verehrung von Luftwaffenpiloten in Israel. Und so, wie die Menschen in Amerika nun sich selbst versicherten: "Wir haben Pearl Harbour überlebt, wir werden bin Laden überleben", sagten die Menschen in Israel: "Wir haben den Holocaust überstanden, wir werden auch Jassir Arafat überstehen."

"ICH DACHTE MIR, ES GEHÖRT DAZU, DASS WIR DIE PARTIKEL DER VERSTORBENEN SEELEN EINATMEN."



Die Autorin Lily Brett möchte
 jetzt erst recht in keiner anderen
Stadt leben.
Lily Brett hat eine Schwäche für Kleider, und wenn sie mit einem Roman gerade mal nicht weiterkommt, streift sie durch Chinatown und kauft Stoffe. Anschließend schickt sie diese per Kurier zu ihrem besten Freund nach Sydney, wo er ihr Kleider und Blusen daraus schneidert. Als das erste Flugzeug in den Nordturm flog, diskutierte sie mit ihrem Freund gerade die Tiefe des künftigen Dekolletees. Lily Brett rannte auf die Wooster-Straße in SoHo, wo die Nachbarn bereits zu den Türmen hinaufschauten. Lily Bretts Eltern haben Auschwitz überlebt, in ihren Büchern ist das Dritte Reich zentrales Thema, und als sie an jenem Dienstagmorgen den Kopf zu, den Türmen reckte, hatte sie nur diese eine Assoziation: Auschwitz.

"Ich bin mit brennenden Menschen aufgewachsen. Als ich die Türme in Flammen sah und herabfallende Körper, musste ich sofort an Auschwitz denken." Drei Tage nach dem Angriff verließ Lily Brett mit ihrem Freund David Rivkin die Stadt, dann aber siegte das Heimweh nach SoHo. "Es roch noch immer nach Tod. Aber ich dachte mir, das gehört dazu, dass wir die Partikel der verstorbenen Seelen einatmen."

Es gebe einfach keinen anderen Ort auf der Welt, an dem sie lieber wohnen möchte, gerade jetzt. Lily Brett sitzt vor einem Glas Kamillentee in einem geblümten Kleid ihres australischen Couturiers, knabbert an einem Stück Matze und sagt: "Als Jude fühlt man sich in New York zu Hause. Jeder versteht meinen Vater und seinen schrägen polnischen Akzent, es gibt Taxifahrer, die Jiddisch sprechen." Und welche aus Beirut, mit denen streitet Lily Brett über Israel, was wiederum nur in New York möglich sei: dass eine Jüdin und ein Muslim in einem Taxi miteinander reden, nicht Krieg führen.

Der Kellner in der Bar des feinen "Carlyle Hotel" schaut griesgrämig auf meine Turnschuhe, dann auf seine Liste für diesen Montagabend. Ich sehe nicht aus, als könnte ich mir einen Abend mit Woody Allen leisten: 150 Dollar kostet allein der Eintritt, zwanzig Dollar ein Glas Wein. Er führt mich weit weg von der Bühne, an einen Platz irgendwo zwischen zwei Säulen. Erst als ich ihm sage, ich käme aus Israel, strahlt der Kellner und erzählt, er habe dort Verwandte. Und einen besseren Platz für mich.

Immer montags ab halb neun spielt Woody Allen zusammen mit der New Orleans Jazz Band. Sein Agent hatte mir gesagt, ich sollte versuchen, ihn nach dem Konzert anzusprechen. Viel Hoffnung aber hatte er mir nicht gemacht: "Mr. Allen gibt keine Interviews darüber, wie er sich als Jude fühlt."

An diesem Montag machte Woody Allen keinen glücklichen Eindruck. Er lächelte kein einziges Mal. Wenn er nicht spielte, legte er die Klarinette auf seinen Schoß und ließ die Schultern hängen. So als hätte er die ganze Last der Welt auf seinen Schultern zu tragen.

Der Terroranschlag, hatte Allen in den Tagen nach dem 11.September gesagt, sei "grauenhaft", aber "er wird mein Leben nicht verändern". Nur drei dieser Montage hatte er ausfallen lassen. Er fühle sich zwar nicht mehr so sicher wie ehedem, "aber verlassen werde ich New York nie!" In den Tagen nach dem Anschlag wollte Woodv Allen Blut spenden, aber seine Blutgruppe 0 war nicht gefragt. So schmierte er Sandwiches für die Feuerwehrleute.

Stanley Cohen wohnt in einer Ecke des East Village, die er seinen Besuchern nachts nicht zumuten möchte: "Kommen Sie, wenn es hell ist". Die Hauswände sind mir Graffiti übersprüht, auf den Trottoirs stehen Drogendealer mit Goldketten und alle paar Minuten rasen halbwüchsige Puerto-Ricaner mit ihren Wagen die Avenue-D entlang — ohrenbetäubender HipHop dröhnt durch die offenen Fenster.

Um zwölf Uhr mittags klingle ich an Cohens schwerer Eisentür, er empfängt mich im Bademantel und einer zweiten Warnung: "Von nun an sind Sie im Visier des FBl". Cohen entschuldigt sich, er müsse eben noch duschen, ich solle doch fernsehen. Seinen gereizten Hund stellt er mit Karotten ruhig. Im Flur hängen Bilder aus Cohens Leben: als Hausbesetzer, als Demonstrant, als Sozialarbeiter mit Drogenabhängigen auf Entzug, als Freund der Palästinenser: Auf einem Bild steht er neben Arafat. Stanley Cohen ist eine der derzeit umstrittensten Personen im öffentlichen Leben der USA: Er verteidigt als Anwalt Muslime, die im Verdacht stehen, für bin Ladens Al-Qaida zu arbeiten. Und Cohen ist Jude. Die Juden Amerikas sagen, so einer kann kein Jude sein. Und die Muslime umarmen ihn. Der palästinensische Hausbesitzer schätzt die Arbeit des Juden für Muslime so sehr, dass er von Cohen nur wenig Miete für das Loft verlangt. Deshalb bleibt Cohen der Avenue D treu.

Als er mit nassen Haaren aus dem Badezimmer kommt, klingelt das Telefon. Es ist CNN, zum dritten Mal in dieser Woche. Dass Cohen als Jude Muslime und Terroristen verteidigt, sprengt Vorstellungskraft und Toleranz. Er spricht Arabisch, betritt Moscheen in Brooklyn mit einem "As-salam alaikum" und er ist eng befreundet mir Moussa Marzook, dem politischen Führer der radikal-islamischen Hamas, der seit 1997 im syrischen Exil lebt. Cohen verteidigt in diesen Tagen sich — weil er selbst Menschen verteidigt, die seiner Ansicht nach für eine "gerechte Sache" kämpfen. Er sieht sich als Scharnier zwischen der Welt der Juden und jener der Muslime: "Wir sind alle Semiten."

Wenn Cohen redet, dann nicht, um zu argumentieren, sondern um zu überzeugen: Es sei doch eigentlich unmöglich, dass "ein Jude ein Hamas-Mitglied nicht verteidigt", sagt er, wenn man ihn zweifeln hören möchte. Demnächst, sagt Cohen, werde er für mutmaßliche Terroristen vor Gericht gehen, die den September-Attentätern geholfen haben sollen. Welche, darüber müsse er schweigen. CNN hat ihn eben noch gefragt, ob er auch bin Laden verteidigen würde: "Sure!" Als Jude sei er geradezu verpflichtet, anderen zu helfen, die ebenfalls unterdrückt werden: "Wir Juden wissen, wie es ist, verfolgt zu werden. Wir haben nicht das Monopol aufs Leiden." Der Angriff auf Amerika, meint Cohen, sei auch die Folge der amerikanischen Israel-Politik. "Die USA haben so viel Hass gesät, es musste eines Tages einfach zu so etwas kommen".

"BIN LADEN IST WIE HITLER. DER HAT AUCH DIE GANZE WELT VERRÜCKT GEMACHT"

Dass Paul Auster Jude ist, weiß kaum einer seiner Leser. Sagt er. Ich frage, ob ihm das Jüdischsein egal sei, und er fragt zurück: "Wie kann einem Juden das Judesein egal sein?" Bin Ladens Angriff sei "der schrecklichste Moment für Juden in der amerikanischen Geschichte".

  Zusammen mit der Schriftstellerin Siri Hustvedt und ihrer 14-jährinen Tochter Sophie leben die Austers in Park Slope, Brooklyns feinerer Gegend. Eigentlich wollte mich Paul Auster gar nicht treffen: Er habe doch schon alles gesagt. Man solle jetzt schweigen —oder sich dafür einsetzen, dass Amerika nicht alles Geld in einem globalen Krieg gegen Terrorismus verpulvere. Paul Auster verabscheut Bush. Er habe kein Vertrauen in dessen Regierung, die nur aus "kalten Kriegern" aus der Regierung des Vaters bestünden.
Als ich an einem Nachmittag dann doch im Wohnzimmer der Austers sitze, bessern drei bullige Handwerker die morsche Holzveranda aus. Der Staub der Zwillingstürme habe sich in das Holz gefressen, sagt Paul Auster, zieht an einem Zigarillo und fragt, ob ich nicht ein Glas Whisky möchte.

Er könne einfach nicht mehr über den 11. September reden, entschuldigt er sich. Er findet die von den Handwerkern verursachte Unruhe "spannend". Das Chaos erinnere ihn an jenen Dienstag im September. "Ich dachte, ich würde nie wieder auch nur ein Wort schreiben." Wochenlang habe er "nur sinnloses Zeug" getan, Rechnungen geschrieben, Müll rausgetragen, neues Farbband für die Schreibmaschine gekauft. Drei Wochen vor dem Angriff hatte er seinen letzten Roman beendet, der im Herbst erscheint.

Die Anschläge, sagt er, "habe ich kommen sehen. Natürlich nicht in dieser Dimension". Paul Auster plädiert für Demut und dafür, sich für Gegenwelten zu interessieren. Am Abend zuvor habe er mir seiner Frau den "tollsten Film der Welt" gesehen, Sullivan's Travels. Ein Film über einen plötzlich erfolglosen Hollywoodproduzenten, der das wahre Leben als Obdachloser kennen lernen will, um "wahre" Filme drehen zu können. Die Parabel gefällt Paul Auster: "Wir bombardieren die arabische Welt, dabei wissen wir gar nichts von denen." Anstatt die fremde Welt kennen zu lernen, habe sich Amerika mit Monica Lewinskv und Zigarren beschäftigt.

Das Badezimmer von Lisa Schwarz ist komplett rosa. Die Kacheln, der Toilettenbezug, die Handtücher, die Kleenextücher. "Rosa schmeichelt - den Falten", sagt Frau Schwarz mit ihrer tiefen Raucherstimme und zündet sich eine Zigarette an. Die Achtzigjährige arbeitet als Assistentin des Herausgebers an drei Tagen in der Woche im Büro der deutsch-jüdischen Zeitung Aufbau. Am Morgen des 11.September kam Lisa Schwarz aus dem Badezimmer und lief in ihre Fernsehecke in der Küche, wo sie den Tag mit den NBC-Nachrichten beginnt. Die Bilder von den brennenden Türmen konnte sie zunächst nicht einordnen: "Ich dachte, ich hätte aus Versehen den Spielfilmkanal gedrückt." In den darauf folgenden drei Tagen hat Lisa Schwarz zum ersten Mal das Kettenrauchen fast vergessen: "Ich hatte solche Angst wie seit dem Holocaust nicht mehr."

Manchmal weint Lisa Schwarz, wenn im Fernsehen wieder ein Bericht über die Anschläge läuft: "Aber das muss nichts heißen: Ich heule ja schon, wenn mir jemand Happv Holidays wünscht". Den Nazis ist Schwarz in letzter Minute entkommen und von aus Berlin in die Schweiz geflüchtet. Von dort fuhr sie 1948 weiter nach New York. Sie lebt seit über fünfzig Jahren in derselben Wohnung in der Upper West Side; in den Regalen stehen deutsche Bücher, im Kühlschrank liegt deutsche Salami und im Wohnzimmer hängen der Duft von Fendi und eine Weltkarte, auf der sie mit Bleistift Datum. Uhrzeit und Ort von Kapitulationen der deutschen Armee mir Bleistift notiert hat. Das Fendi-Parfum versprüht sie jeden Tag, um den Rauch zu neutralisieren. Am nächsten Tag treffen wir uns zum Mittagessen in einem Schweizer Restaurant, Frau Schwarz liebt das Essen und das Land so sehr, dass sie ihre Büronische mit Plakaten des Schweizer Fremdenverkehrsamtes tapeziert hat. Sie sagt, die Angriffe hätten alle ihre jüdischen Freundinnen "aus dem Gleichgewicht geworfen". Der Angriff habe "auch uns Juden gegolten". Während sie mit ihren Rösti beschäftigt ist, hält sie inne, als sei sie wie von einem Geistesblitz getroffen, und sagt: "Bin Laden ist wie Hitler. Der hat auch die ganze Welt verrückt gemacht". Sie schminkt ihre Lippen nach und lächelt über den Taschenspiegel hinweg: "Sie könnten auch ein Muslim sein und trotzdem würde ich mit Ihnen zum Lunch gehen".

Claude Sabbah sitzt in seiner Boutique in Downtown Manhattan, Da House of Sabbah, und er strahlt beim Thema 11.September, dass man den goldenen Schneidezahn blitzen sieht: "Wir mussen jetzt alle zusammenhalten", sagt der gebürtige Marokkaner, "Juden, Muslime, Christen, Hinduisten." Vor fünf Jahren ist Sabbah aus Paris nach New York gezogen, seitdem stattet er Lauren Hill und Miss Elliott aus, zieren seine Hosen, Mäntel, Blusen und Abendroben Vogue-Cover und füllen halbe Reportageseiten der New York Times. New York sei das "Mekka der Juden".

Nachdem Sabbah 1997 in New York gelandet war, musste er seine Koffer öffnen. Als der Zollbeamte Sabbahs Chanukka-Kerzenleuchter und Gebetsriemen herausfischte, fragte er:

"Are vou Jewish?"
"Are vou praying?" "Yes."
"Weleome to New York!"

Er habe das Gefühl gehabt. "ich lande in der Bibel". In Paris habe man ihn dirty Arab" geschimpft. in Casablanca "dirty Jew". Und in New York "bin ich einfach Claude".

Der Jude Claude: Es ist Freitagmittag und plötzlich öffnet sich die Tür zu seiner Boutique und zwei junge orthodoxe Juden aus Brooklyn bitten um Aufmerksamkeit. Sie kommen unregelmäßig freitags, um mit Claude zu beten. Unbeeindruckt von dessen Tattoos und Ringen und Ketten schnallen sie ihm Gebetsriemen um, legen ihm eine Kippa auf die Baseballmütze — dann beten sie zu dritt. Bevor sie gehen, belehren uns die zwei orthodoxen Jungs aus Brooklyn, dass der 11.September ein Tag der "Erlösung" gewesen sei: "Wenn so wenige Menschen es schaffen, die ganze Welt zu verändern, dann lernen wir daraus: Jeder kann die Welt verändern. Wir müssen gute Taten vollbringen."

Am Tag meiner Abreise rufe ich Jonathan, meinen Sitznachbarn auf dem Flug nach New York, bei seinen Freunden an. Sie holen ihn aus dem Bett. Er jobbt seit ein paar Tagen in einer Bar und hat ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft in Aussicht. Gestern Nacht habe er an der Bar ein sehr hübsches Mädchen kennen gelernt. "Erst war ich mir sicher, sie ist lsraelin. Aber sie kommt aus Beirut!" Sie wollen heute vielleicht ins Kino gehen.

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