Von Alice Schwarz
In alten Zeiten saßen die Propheten in der Wüste oder in
einer Höhle oder in erhabener Bergeinsamkeit zu Delphi im alten
Griechenland. Die biblischen Propheten predigten meistens Unheil. Sie
waren vor allem mit dem Volk unzufrieden. Daher schimpften sie es aus
und bedrohten die Sündigen mit dem göttlichen Zorn. Ihre
machtpolitischen Ziele haben sie aber meistens nicht erreicht. Das Volk
hat sich auch nicht besonders gebessert. Es blieb, wie ein Volk eben
schon einmal so ist. Ein Haufen ganz gewöhnlicher Menschen. Die gern
(möglichst gut) leben wollen.
Im alten Griechenland war es wieder anders. Die Propheten
betätigten das delphische Orakel. Die Orakelsprüche der Pythia von
Delphi, die von einem Priesterkollegium unterstützt wurde, gaben in
vielen wichtigen Entscheidungen den Ausschlag - Krieg oder Frieden,
Koloniegründungen (!), Gesetzgebung, Sakralwesen und
Personalentscheidungen. Das waren noch Zeiten! Steinreich wurden die
Propheten auch dabei, wegen der massiven Opfergaben. Da können die
heutigen Politiker und Rabbis nur neidisch blicken. Das pythische Orakel
wurde leider abgeschafft.
Heutzutage sitzen die Propheten zum Teil am Stammtisch und
zum Teil am Computer. Die letzteren sind oft Journalisten. Sie
veröffentlichen ihre Weisheiten entweder als Umfrageergebnisse oder als
politische Leitartikel. Die Umfrageergebnisse sind streng
wissenschaftlich und etwa ebenso verlässlich wie der Blick in den
Kaffeesatz oder in die Glaskugel. Oder eventuell auch in die Tarokkarten.
Das wissenschaftliche Wanken wundert die Verfasserin dieser
Zeilen nicht. Sie steht seit Jahrzehnten trotz Protesten unter einem
falschen Namen im Telefonbuch (Computer!) und da sie überzeugte
Niehtraucherin ist, steht auf Grund einer verlässlichen Befragung in
ihrer Akte der Krankenkasse "starke Raucherin". Und trotzdem und dennoch
und abgesehen von allem liest man mit heiliger Ehrfurcht und in
atemloser Spannung die täglich veröffentlichten Umfrage-Ergebnisse. Man
muss doch den Gang der politischen Entwicklung verfolgen.
In Deutschland hat man soeben erfahren und bewiesen, was
dabei herauskommt. Deutschland, mehr als zehnmal volkreicher denn Israel
und auch sonst "einigermaßen" größer, hat in Moment "israelische
Zustände". Es hatte (mit Verlaub gesagt überflüssige) Wahlen, bekam ein
Resultat, das zu Schwierigen und vielleicht unmöglichen "israelischen"
Koalitionsverhandlungen führt, und manche deutsche Kommentatoren dachten
sogar über eine Turnus-Regierung der zwei großen Parteien nach
israelischem Musterbeispiel nach. Davor ist inzwischen sehr ernst gewarnt
worden. Wenn zwei das Gleiche tun, ist es noch nicht das Gleiche.
Der gegenwärtige deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder
hat entgegen allen Prophezeiungen keine schwere Niederlage erlitten.
Dass er in einem nur relativ kleinen Abstand hinter der Rivalin Angela
Merkel zurückblieb, bezeichnet er als Sieg.
Wie schon so oft in Israel, sehen wir in Deutschland zwei
Sieger in einem Kampf und keinen Verlierer. Wir sind besorgt, denn der
wahre Verlierer könnte das Publikum sein. Deutschland ist heute der
wichtigste Staat in Europa und sehr wichtig in der Welt, auch wenn
manche Deutsche das aus lauter Weltschmerz nicht zu bemerken scheinen.
Das ist schade. Ein stabiles Deutschland ist eine Voraussetzung für eine
stabile Welt und eine stabile Weltwirtschaft. Man wünscht ihnen, dass
sie bald aus der Israel-ähnlichen Wahlmisere herauskommen.
Diese hat in Israel erst angefangen. Hier wird seit Wochen
das weitgehendst bekannte und weithin unbeliebte Drama "Politikerrivalitäten"
aufgeführt. Es ist getarnt als ideologische Auseinandersetzung. Die
Hauptrollen spielen Arik und Bibi. Eine absolute Mehrheit des Volkes ist
mit der Politik der gegenwärtigen Regierung einverstanden. Nach einer
Rundfrage von Mina Zemach/Dachaf für "Jedioth Achronoth" - der wir
ausnahmsweise glauben - würde Ariel Scharon beieinem Ausscheiden aus dem
Likud mit einer neuen Partei 36 Mandate gewinnen. Netanjahu, von "Jedioth
Achronoth" wieder "Bibi" tituliert, brächte es auf nur 14 Mandate. Das
veranlasst "Bibi", sich als Sieger zu gebärden. Scharon der
Umfragen-Sieger hingegen ist als weiser Mann besorgt.
"Maariv", die Rivalin von "Jedioth Achronoth" und nicht so
Scharon-freundlich, titulierte es anders. Auf der Titelseite erscheint
die Überschrift: "Scharons Stab: Wenn wir verlieren, scheiden wir aus
dem Likud aus". Dieses Prophetenwort muss man richtig genießen. Ein
angedrohtes Ausscheiden Scharons muss ihm nämlich im Zentralbüro heftig
schaden. Dort sagt man: ein Mann, der nur dann in der Partei bleibt,
wenn er im Zentralbüro siegt, der sonst aber ausscheidet, ist ein
unsicherer Kantonist. Den wollen wir nicht.
Natürlich will Scharon alles andere als unsicher
erscheinen. Wenn er als unsicheres Parteimitglied gilt, wird man im
Zentralbüro gegen ihn stimmen. Andererseits wird er natürlich nicht
seine Karriere als Nummer Zwei von Bibi beenden wollen, noch dazu wenn
er mit einer separaten Partei Siegeschancen hat. Seine Propheten
schreien daher klar und deutlich "Jein". Also ja-nein.
Propheten rechts, Propheten links, das Weltkind in der
Mitten, dichtete Goethe. Weh Dir, dass du ein Weltkind bist, könnte man
ein anderes Zitat von ihm abwandeln.
Inzwischen hat Netanjahus Vorschlag einer Vorverlegung der
Primaries einen leichten Vorsprung vor Scharon, nach einer Umfrage der
Propheten des Haaretz. Für diese ermittelte Professor Camil Fuchs, dass
Netanjahus Vorschlag von Primaries im November mit 45,5 Prozent unter
510 befragten Mitgliedern des Zentralbüros vorne liegt. Es gibt
insgesamt 3050 Mitglieder. 40,3 Prozent sind für Scharons ursprünglichen
Vorschlag, die internen Wahlen des Parteivorstands im April 2006 -
günstiger für ihn - abzuhalten.
Die Entscheidung fällt am Montag. Dann werden wir alle
wissen, welche Propheten gelogen haben und wer zufällig einmal die
Wahrheit sprach. Dann wird auch die Entscheidung näher rücken, ob
Scharon Israels Ministerpräsident bleibt. Aber auch das ist nicht
sicher, sprach Pythia, die Prophetin von Delphi, und hüllte sich in
dichten blauen Nebel. Starke Raucherin.
Die Qual der Wahl befällt vorläufig noch nicht direkt den
israelischen Bürger. Wie in einer echten Demokratie hat er hier nichts
zu sagen.
Entscheiden werden über Israels Schicksal und Zukunft am
Montag 3050 führende Likud-Parteimitglieder. Sie werden in vollkommen
demokratischer Weise darüber nachdenken, ob es sich ihnen lohnt.
Einerseits ist da die Ideologie vom heiligen Boden Gazas, den man aufgab
und wofür eine Strafe zu verhängen ist, andererseits sind da diverse
Jobs und hier oder da ein Dienstauto.
Wie sagte es so schön Haaretz? In Netanjahus Lager ist man
vom Sieg überzeugt. Man ist nur besorgt, dass man vielleicht verliert.
Die Qual der Wahl wird zur Wahl der Qual. Was quält mehr - ein
schlechter Boss oder ein mieser Job? Oder gar keiner? Vor allem aber:
wie kann man Arik den Hauptjob wegnehmen?
Es wäre lustig, wenn es nicht so schicksalsbestimmend
traurig wäre. Man kann nur hoffen, dass zu guter Letzt bei aller Qual
die Wahl des Besseren siegt.